Verlorene Heimat
Dies ist kein Paradies. Wer das sagt, wer das glaubt, wer diese Postkartenidylle nach außen trägt, der lügt; aus Gewohnheit, aus Feigheit, aus purem Überlebenstrieb. Denn hier, nördlich des Alpenrands, wird jeder Sonnenstrahl mit mindestens einer Woche Regen vergolten. Ein unausgesprochenes Naturgesetz, das den Menschen klein hält, als Strafe für jeden Anflug von Hoffnung. Die Wiesen, feucht und ölig schimmernd, glänzen nur für das Prospektfoto; in Wahrheit stinkt es nach Jauche, Moder und Fäulnis. Die Landstraßen, verstopft von Bauern, die in ihren Traktoren sitzen wie auf Thronsesseln, unbeweglich und trotzig, ein zäher Adel aus Gülle und Diesel, der den Fortschritt mit jedem vorbeiziehenden Hänger erstickt.
Und über allem die Berge. Sie ragen nicht als Erhebung oder als Sehnsuchtsort, nein, sie drücken, sie lasten, sie umschließen wie eine graue Gefängnismauer. Wer hier geboren wird, wächst nicht mit dem Blick in die Ferne auf, sondern mit dem Gefühl, dass Flucht unmöglich ist, dass der Himmel wie ein bleierner Vorhang über einem liegt. Selbst auf dem Gipfel findet man keine Freiheit, nur Wind und Geröll und den bitteren Blick hinab auf das Tal, wo die Menschen wie gefangene Ameisen schuften und trinken, fliehen und doch bleiben.
Der Tourismus hat selbst diese Kalksteinriesen längst verschlungen. An den Wochenenden brechen Karawanen von Großstädtern herein, SUVs wälzen sich wie Panzer durch überfüllte Straßen, Parkplätze zerfressen die Almwiesen, und die alten Pfade, einst still und einsam, sind zu einem Zirkus aus Selfie-Sticks und Drohnen verkommen. Die Natur ist nicht mehr Natur; sie ist Kulisse, tote Oberfläche, ein Instagram-Filter, ein Geschäft.
Unten im Tal herrscht der Filz. Politische Ämter vererben sich wie Höfe, Posten werden nicht vergeben, sondern weitergereicht und jede Generation hält die andere gefangen in einem Apparat aus Schweigen und Seilschaften. Bürgermeister, Landräte, Parteifreunde, dieselben Gesichter, dieselben Gedanken, ein Kreislauf aus Nichtstun und Selbstbegünstigung. Das alte Geld, die Erben, Grundbesitzer, die Villenbewohner hinter hohen Hecken, sie halten das Land im Würgegriff. Kein Fortschritt wagt sich durch diese Gitter, keine neue Idee überlebt länger als ein Regenwurm auf Asphalt an einem heißen Sommertag. Und wenn doch, dann bestenfalls zum Nachteil des kleinen Mannes. Der weiß kraft Geburt, dass er niemals Teil des herrschenden Geldadels sein wird. Seine schönste Perspektive ist ein verschuldetes Dasein als ewiger Tributknecht für ein System, dessen einziger Zweck die Selbsterhaltung ist.
Das tägliche Leben ist wie ein absurdes Rennen ohne Gewinner. Der Weg zur Arbeit, Staus, Hupkonzerte, ein endloses Kriechen in Autos, die glänzen wie polierte Götzenstatuen und doch nichts sind als eiserne Ketten. Der Benzingeruch hängt in den Tälern wie eine Droge, und man weiß: man könnte das Auto verkaufen, die Fesseln sprengen, aber man tut es nicht, denn der öffentliche Nahverkehr ist noch brutaler. Ein dysfunktionaler Moloch aus Verspätungen, technischen Defekten und einer sozialen Schicht mit längst erloschenen Träumen, die nirgends dazu gehört.
Die Dörfer, die Städte; Museumsfassaden, pittoresk von außen, dahinter feuchte Wohnungen, Schimmel und erdrückende Mieten. Zerfallene Bauruinen, die für Millionen den Besitzer wechseln wie heilige Relikte. Bierzelte als Kathedralen, voll mit schlechter Blasmusik, klebrigen Tischen, Massenalkoholismus, sexueller Belästigung und menschlicher Evolution im Rückwärtsgang. Eine klebrige, stinkende Linderung gegen die Leere. Am Wochenende zerfällt die Scheinordnung in Schlägereien, Erbrochenem und Urin auf Kopfsteinpflastern, Lederhosen triefend von Bier und Schweiß, während die Musik weiterdröhnt und das Elend im Takt der Blechbläser pulsiert.
Der Dialekt stirbt. Die Traditionen und die Lebensqualität, auf die man sich so viel einbildet, sind längst mumifiziert wie ausgestopfte Tiere, die man noch in Vitrinen zeigt. Alte Menschen lehnen wie graue Statuen hinter schlierigen Fenstern voller Grünspan, grimmige Gesichter, die nie wegkamen, die nichts erreichten, und doch bleiben, weil sie nichts anderes kennen. Die Jugend flieht, sobald sie kann. Wer bleibt, redet sich das Unerträgliche schön und erfindet Märchen, spricht von Lebensqualität, heiler Welt, Heimat und Verwurzelung, während der Schimmel das Mauerwerk zerfrisst und die Hoffnung wie ein seltenes, sterbendes Tier dahinsiecht. Und jene, die bleiben, pflanzen keine Zukunft. Sie kaufen sich Hunde. Kläffende, stinkende Ersatzkinder, die an langen Leinen durch die kalten, tristen Gassen gezerrt werden, während der eigene Stammbaum langsam verfault und die letzten einheimischen Stimmen wie ein verzweifeltes Echo in einem leeren Tal verhallen.
Und wenn einmal die Sonne durchbricht, wenn für ein paar wenige Stunden Licht über die ölig schimmernden Wiesen fällt, strömen sie hinaus, als hätte man ihre Gefängniszellen geöffnet. Dann drängen sich die Massen an veralgten Tümpeln, grillen im Lärm und Gestank, werfen Plastikmüll ins Wasser, als könnten sie so vergessen, dass die Sonne nur ein Gastspiel gibt, eine kurze Grausamkeit, die das Elend für einen Moment grell ausleuchtet.
Oberbayern; dies ist kein Paradies. Es ist eine Falle, ein morsches System, eine Zuchtstation für Mückenlarven und Nacktschnecken, für kaputte Existenzen und für altes Geld, das wie eine Kruste über allem liegt. Die Berge, die Wiesen, die Dörfer; sie sind keine Heimat. Sie sind ein Käfig.
Und Schönheit? Ja, es gibt sie. Ein Sonnenstrahl auf feuchtem Moos oder der Nebel, der sich an den Gipfeln verfängt, aber sie rettet nichts. Sie vergibt nichts. Sie ist nur ein Hohn, ein süffisantes, kaltes Lächeln über einem Land, das langsam an sich selbst erstickt.